WARUM "UNERZOGEN" NICHT ZU JEDEM PASST


- Meiner Ansicht nach sind nur wenige Eltern in der Lage, ihre Kinder „frei“ zu lassen. „Frei lassen“, das verstehe ich unter „Unerzogen“. Um mein Kind nicht zu erziehen, das heisst, es nicht mit allgemein gesellschaftlichen Vorstellungen und meinen eigenen Prägungen und Konditionierungen zu belegen, muss ich von selbigen ganz schön frei sein. - 

 Und das ist kein Schalter den ich umlegen kann. Das sind Denkweisen und Gewohnheiten die mich seit meiner Kindheit begleiten. Muster mit denen ich aufgewachsen bin. Die sind mir so dermaßen in Fleisch und Blut übergegangen, dass ich nicht mehr darüber nachdenke. Ich agiere unbewusst.
Um mein Kind nicht (mehr) zu erziehen muss ich mir erstmal über mich bewusst werden. Das wiederum kann ich nur in dem Spiegel den mir meine Mitmenschen bieten. Ohne diesen Spiegel können wir uns nicht sehen. Innerlich. Nur durch andere Menschen können wir uns bewusst werden und uns kennenlernen. Einer der Gründe für eine achtsame Auswahl der Menschen die uns umgeben. Die ehrlichsten Spiegel sind meistens unsere Kinder da ihre Rückmeldung unmittelbar und direkt kommt. Wir wissen gleich woran wir sind. Nur was tun, wenn uns etwas gespiegelt wird, das uns nicht gefällt?

Die meisten von uns Erwachsenen haben eine Kindheit erlebt die nicht rundum schön und malerisch war. Viele von uns wurden in einem gesellschaftlichem Konsens erzogen der Achtsamkeit, Bewusstsein und Individualität an der richtigen Stelle oft missen ließ. Da entstand Mangel in verschiedenen Bereichen. Mangel an Aufmerksamkeit und Beachtung. Mangel an Liebe. Mangel an „gesehen werden“. Da mussten intellektuelle Sicherheitsmechanismen entwickelt werden, um emotional zu überleben. Frei wuchsen die meisten von uns nicht auf. Um unseren Kinder diese Freiheit zu ermöglichen, diese Freiheit im Aufwachsen, im Ihrer-selbst-entfalten müssen wir uns unserer eigenen Unfreiheit bewusst werden. Wir müssen uns unserer Unfreiheit bewusst werden und dann das Bewusstsein, das Feingefühl und die Stärke besitzen uns und unsere Kinder an den richtigen Stellen nach und nach freizusetzen.
Doch warum auch uns? Was hat meine innere Freiheit mit der meiner Kinder zu tun? Und warum Schritt um Schritt?
Kinder zu erziehen steht immer im Zusammenhang mit Kontrolle. Da geht es per se nicht einfach nur um ein stupides Machtverhältnis das von Seiten der Erwachsenen kontrolliert wird sondern unter Umständen um Abläufe die nicht nur den Alltag sondern auch das innere Gefüge des Elternteils stabilisieren. Solange unser inneres Gleichgewicht auf den Säulen einer begrenzenden Konditionierung balanciert, sind wir nicht in der Lage, unsere Kinder mit Feingefühl auf ihrem Weg bewusst zu begleiten. Ein Erwachsener der seit seiner Kindheit unter Begrenzungen leidet, die ihn aber paradoxerweise als Erwachsener auch stabilisieren können, wird entweder Kinder hervorbringen, die ähnlich, vielleicht abgeschwächt, konditioniert sind wie er selbst oder Kinder, die zwar frei aber eben auch unbegleitet aufwachsen, aus dem Wunsch heraus, die eigenen Kinder nicht zu erziehen und zu konditionieren.
Wir müssen uns die Zeit geben, alte Wunden zu heilen, uns bewusst zu werden, aufzuwachen.
Ich habe das alles ausprobiert. Eine unbewusste und konditionierte Erziehung in den ersten Jahren meines ersten Kindes. Dann schwappte vor einiger Zeit die unerzogen-Welle zu mir rüber. In meinem Streben nach positiver Veränderung probierte ich uns einige Zeit darin aus bis ich irgendwann merkte, dass ich das nicht mehr halten kann. Das war als mein viertes Kind geboren war und ich alleinerziehend mit den Dreien dastand (eines meiner Kinder lebt beim Vater). Ich wurde mir in dieser Phase unserer Hochsensibilität bewusst und plötzlich begann ich mich zu verstehen. Ich begann diese Situationen zu verstehen in denen ich mir unter anderen Eltern immer wie der Alien oder das Sensibelchen vorkam und mich dafür verurteilte, manche Dinge eben nicht aushalten zu können oder in manchen Dingen einfach streng zu sein. Heute weiß ich, dass ich in manchen Situationen einfach keine andere Möglichkeit habe, als Regeln aufzustellen. So wird, nur um ein Beispiel zu nennen, beim gemeinsamen Essen bei uns nicht geblödelt. Und wenn, dann zäune ich das recht bald ein. 1. Weil ich die Lautstärke nicht aushalte und 2. weil ich die überschäumende Energie meiner Kinder bis ins Detail spüre und sie nicht kompensieren kann. Entweder muss das dann aufhören oder ich muss den Raum verlassen.
Wenn wir den Umgang mit unseren Kindern betrachten, vergessen wir ganz gerne uns selbst. Das Kindeswohl steht im Mittelpunkt, ja. Das eigene Kind glücklich zu sehen ist die Erfüllung aller Eltern. Aber das eigene Kind in seinem Glück wirklich wahrzunehmen, dieses nachempfinden und spüren zu können, das ist nur möglich, wenn wir den inneren Raum dafür haben. Doch solange dieser Raum mit Mängeln und Defiziten belegt ist, die Überbleibsel unserer eigenen Kindheit, solange können wir nicht als selbstbestimmte Erwachsene Situationen meistern in welchen unbewusste Konditionierungen greifen. Vielleicht sogar selbst wenn wir die Prägung als solche entlarvt und uns gegen sie entschieden haben. Damit alleine ist es eben auch nicht getan. 
 
- Es hilft nichts, einem Trend zu folgen denn jeder Trend ist eine erneute Verallgemeinerung die unsere Individualität und jene unserer Kinder übergeht. Jede Mutter und jeder Vater kann nur selbst und alleine herausfinden welcher Umgang sich richtig anfühlt. Als Elternteil und als Mensch. -

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